von der osten

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"neues Gelände"  |  OFD Frankfurt

Rede zur Ausstellungseröffung [Auszug]

Die Ausstellung steht unter dem Titel Flexions. Der deutsche Begriff Flexion stammt aus der Sprachwissenschaft und bezeichnet die Veränderung der Grundform eines Wortes nach bestimmten grammatischen Regeln. Ein Beispiel für solche Abwandlungen ist die Konjugation von Verben. Jedes Verb hat eine Grundform, den Infinitiv. Konjugieren bedeutet, dass wir diese Grundform verändern, indem wir das Verb auf eine oder mehrere Personen beziehen und an eine bestimmte Zeitform anpassen. Auch in Euren Arbeiten geht es um Veränderungen und Abwandlungen von Grundmotiven.
Vor allem die Dimension Zeit mit ihren Variationen - die Überlagerung von Zeitschichten und Zeiterfahrungen - nimmt in den künstlerischen Positionen von Ulrike von der Osten und Rainer Raczinski einen zentralen Platz ein: malerisch wie bei von der Osten und fotografisch im Werk von Raczinski. Das Vergangene spiegelt sich im Gegenwärtigen, im Vergangenen werden Utopien von morgen sichtbar und der Blick auf Gegenwärtiges führt immer wieder in die Vergangenheit. Die Zukunft bleibt offen.
Als Rainer mir sagte, dass die Ausstellung heute - am 9. November - eröffnet wird, fragte ich mich sofort: Ist das Zufall oder Absicht? Denn dieser Tag steht exemplarisch dafür, wie sich mit ein und demselben Datum ganz unterschiedliche Erfahrungen und Vorstellungen verknüpfen. Der 9. November ist in Deutschland ein historisch bedeutsamer Tag - im Positiven wie im Negativen.
  • Am 9. November 1918 dankte Kaiser Wilhelm II. ab; in Berlin wurde die erste deutsche Republik ausgerufen.
  • Am 9. November 1923 versuchte Adolf Hitler in München erfolglos, mit einem Putsch politische Macht zu erlangen.
  • Am 9. November 1938 begannen die Pogrome gegen jüdische Bürgerinnen und Bürger in ganz Deutschland.
  • Und am Abend des 9. November 1989 fiel in Berlin die Mauer.
Auch Ulrike von der Osten hatte für ihre Installation „Scheitelpunkte“, die im vergangenen Jahr in der B-Ebene der Taunusanlage gezeigt wurde, ein – ebenfalls ambivalentes - historisches Datum gewählt: den 8. Mai als Ende des 2. Weltkriegs. Einerseits Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus und damit Grundlage für die Entwicklung von Freiheit und Demokratie in der Bundesrepublik. Zugleich aber auch Grundlage für die Teilung Deutschlands und Ausgangspunkt für die Errichtung einer jahrzehntelangen kommunistischen Diktatur in der DDR.
Für diese Arbeit hatte von der Osten 100 Menschen interviewt, die am 8. Mai geboren wurden. In den Gesprächen wurde klar, dass jeder mit dem 8. Mai ganz unterschiedliche Vorstellungen verbindet. Die aus verschiedenen Materialien geformten Köpfe dieser Menschen, die in den Vitrinen zu sehen waren, vereinigten sich zu einem vielstimmigen Chor.
In von der Ostens Gemälden und Grafiken, die heute ausgestellt sind, ist die zeitliche Mehrdimensionalität in ganz anderer Weise präsent und spürbar. „Zum Raum wird hier die Zeit“, heißt es in Richard Wagners Parsifal. In von der Ostens Werken spielt die Verknüpfung der räumlichen und zeitlichen Sphäre eine zentrale Rolle.
Von der Ostens Bilder lassen, wenn man auf sie schaut, an abstrahierte Landkarten denken. Es könnte sich um das Liniennetz einer U-Bahn handeln, um Bahntrassen, Straßen oder Autobahnen. Allerdings werden die Linien immer wieder von breiten Pinselstrichen überlagert; Linien wiederum unterteilen die Flächen. Farbbänder überkreuzen und verschlingen sich, gehen manchmal einen kleinen Weg gemeinsam, bevor sie sich dann im Unendlichen verlieren. Was zuerst gemalt wurde, scheint immer wieder hervor. Schicht auf Schicht gewinnen die Bilder so auch eine zeitliche Dimension. Der Schaffensprozess in seiner Zeitlichkeit wird sichtbar im Gemälde. Die Linien und Flächen überlagern sich nicht nur, sie überschreiten auch den eigentlichen Bildraum und entfalten eine starke Dynamik. Der Pinselstrich als zeitliche Bewegung im Raum weist über die Bildkante hinaus ins Unendliche des Raumes und der Zeit. „Zum Raum wird hier die Zeit“, um noch einmal Richard Wagners Parsifal aufzugreifen. Von der Ostens Werk ist geprägt von solchen Bedeutungsverschiebungen.
Studiert hat von der Osten bei Professor Karl Georg Pfahler, dem 2002 verstorbenen Stuttgarter Künstler, der als der bedeutendste Vertreter des Hard Edge in Deutschland gehört. Während Pfahler den Fokus auf die geometrische Abstraktion legte, befreit von der Osten ihre Farbfeldmalerei von dem Zwang einer geometrischen Einengung.
Farblich dominiert in von der Ostens Werk oft ein kräftiger Blauton. Aber warum Blau? Das Blau ist die Farbe der Romantik. In dem Romanfragment „Heinrich von Ofterdingen“ von Novalis wird das Blau zum nicht erreichbaren Sehnsuchtsziel träumerischer Phantasie. Ich zitiere: „Er sah nichts als die blaue Blume und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing“. Auch das Blau in den Bildern von der Ostens öffnet den Blick in unendliche Ferne.
Von der Osten arbeitet nicht nur in Malerei und Grafik, sondern experimentiert auch mit Installationen und Videos, die heute nicht ausgestellt sind. Wer ihre Videoarbeiten gesehen hat, wird vieles davon in ihren Bildern wiederfinden.

Zug 11 heißt eine dieser Arbeiten, in der sich kreuzende Eisenbahnschienen, Brückenpfeiler und Wege aus der Perspektive einer Zugfahrt zu sehen sind. Auch manche ihrer Bilder erinnern an Landschaften, wie man sie auf Fahrten im Zug erleben kann, wenn man im Halbschlaf die Landschaft an sich vorbeiziehen lässt, ohne sich dabei auf einzelne Dinge zu konzentrieren. [...]

Tobias Bange, 2024





Ulrike von der Osten

Klaus Honnef

Manchmal scheint es, als ob der Blick von oben die großformatigen Bilder Ulrike von der Ostens regiert. Der Blick auf eine Landkarte. Dann wieder wechseln Aufsicht und Ansicht bei der Betrachtung; mitunter gleichzeitig. Man weiß nicht genau, welche Position dem Bildgeschehen gegenüber die richtige ist. Vermutlich beide. Ein leichter Schwindel begleitet die Wahrnehmung. Dazu trägt die kühle Atmosphäre durch die eigenwillige Farbgebung bei. Kühles Blau dominiert, bisweilen ein fahles Grün-Grau, unterbrochen von erdigen Klängen und sparsamen, aber starken Akzenten in Rot.

Breite Farbbänder ziehen sich über einen farbigen und in Zonen gegliederten Hintergrund. Häufig übernimmt dieser eine operative Aufgabe und lässt seine Rolle als Fond vergessen. Fläche und Raum verbinden sich zum dynamischen Feld. Vibrationen entstehen. Einige Farbbänder über- oder unterschneiden, verschlingen und ballen sich von Fall zu Fall zusammen, andere verlaufen ruhig in horizontaler oder vertikaler Richtung. Gelegentlich wirken sie auch wie Sperrriegel. Einige Gemälde rufen Assoziationen an Luftaufnahmen unübersichtlicher Autobahnkreuze hervor, andere an Giovanni Battista Piranesis „Carceri” (Kerker). Zumal wenn sich der Blick in ihrem labyrinthischen Gefüge verstrickt und kein Herauskommen mehr findet.

Die Bilder appellieren unmittelbar an die physische Seite der Betrachter, aktivieren die motorischen Veranlagungen. Unwillkürlich folgt man den Farbbändern mit den Augen, bis sie ob kurz oder lang abrupt enden, irgendwo, nirgendwo. Die Bewegung überträgt sich auf den gesamten Körper. Zusätzlich animiert von den kühlen, aber kräftigen Farben und zugespitzt von den sparsam eingesetzten starken Kontrasten. Auf verblüffende Weise wird beim Sehen der Prozess des Malens spürbar, die physischen Vollzüge der Malerin, die spontanen Entscheidungen, die zu treffen sind, wenn es die elementaren Bedingungen des Hand-Werks Malerei erfordern; nicht weniger die Phasen des Innenhaltens, Beobachtens und Nachdenkens, des kontrollierten Wegnehmens oder Übermalens.

Ulrike von der Osten unternimmt mit ihren Gemälden eine faszinierende Reise in das nie vollständig zu entdeckende Universum der Malerei und nimmt die Betrachter mit.

Bonn, 2020

Am Scheitelpunkt des Unbewußten

Über Ulrike von der Ostens vielschichtiges Werk und ihr aktuelles Projekt,
das der Stunde Null eine plastische Form gibt.


Katinka Fischer

Am 8. Mai 1945 schlug die Stunde Null. Seit die Kapitulation Deutschlands das Ende des Zweiten Weltkrieges und den Zusammenbruch des nationalsozialistischen Staates besiegelte, ist dieser Tag kein bloßes Datum mehr, sondern eine Ikone. Sie gibt einem historischen Moment Gestalt, an dem Diktatur und Terror zu Vergangenheit wurden und eine Zukunft begann, die Demokratie und Freiheit verhieß. Der „Scheitelpunkt“, an dem sich die Welt damals befand, gibt Ulrike von der Ostens aktuellem Projekt den Titel. Dafür hat die Künstlerin zunächst 100 Menschen gesucht, die an einem 8. Mai geboren wurden, und sie um ein Porträtfoto von sich gebeten. Nach diesen Vorlagen hat sie in Materialien wie Ton, Pappmaché oder Knete unterschiedlich große Köpfe modelliert. Im Dialog mit ihrer Malerei präsentierte von der Osten diese Figurengruppe an der Frankfurter S-Bahnstation Taunusanlage, die durch das Engagement des Kunstvereins EBENE B1 zur Ausstellungsadresse wurde. An diesem ungewöhnlichen Ort gewährt sie Einblicke in ihr so umfangreiches wie facettenreiches Werk.

Ulrike von der Osten, die bei Georg K. Pfahler an der Akademie der bildenden Künste in Nürnberg studiert hat, legt den Schwerpunkt ihres künstlerischen Schaffens auf die Malerei, arbeitet aber auch in anderen Medien. Neben Fotografie und Film gehören dazu Aktionen und Installationen. So lotete sie in einem Schrank schon die Arbeitsbedingungen von Künstlern aus, übersetzte den menschlichen Perfektionsdrang in bewegte Bilder und führte in einem weiteren Video vor Augen, dass es von der Perspektive abhängt, ob eine Stadtlandschaft wie das Paradies oder wie ein Abgrund erscheint. Das Scheitelpunkt- Projekt setzt Ulrike von der Ostens Reflexion gesellschaftlich und politisch relevanter Fragen konsequent fort.

Die große, prompte und generationenübergreifende Resonanz auf einen Aufruf in den lokalen und sozialen Medien belegt, dass die Schreiber der E-Mails die zeitliche Koinzidenz von persönlichem und historischem Moment keineswegs als bloße Laune des Schicksals betrachten, sondern sich der Geschichte vielmehr auf besondere Weise verbunden fühlen. Die Köpfe, die Ulrike von der Osten unter dem Eindruck ihrer Erzählungen und Fotos geformt hat, geben all den individuellen Lebensfacetten, Erfahrungen und Einsichten, aus denen sich der Begriff des 8. Mai zusammensetzt, buchstäblich ein Gesicht. Zugleich nimmt darin ein vielstimmiges Geschichtsbewusstsein plastische Form an. Die kleinen Skulpturen fügen sich damit zu einem Mahnmal, dessen implizite Forderung lautet, Freiheit auch als Verantwortung zu begreifen. Ein solcher Auftrag hat sich naturgemäß nie erledigt. So erhält Ulrike von der Osten nach wie vor zahlreiche Zuschriften, die keinesfalls zu spät kommen. Im Gegenteil sollen neue Köpfe folgen, so dass „Scheitelpunkt“ zu einem „work in progress“ wird, dem weitere Ausstellungsstationen zu wünschen sind.

Auf die Idee zu diesem Projekt kam die Künstlerin durch die Situation am Ort der Auftaktausstellung. In der Frankfurter B-Ebene befindet man sich ebenfalls an einem Scheitelpunkt, an dem sich zwei Welten scheiden: Unter dem städtischen Vorzeige- Ensemble aus Bankenviertel, Alter Oper und Parkanlage strömen täglich viele tausend Menschen meist eilig von einem Ort zum anderen. Seit 2017 bespielt der Kunstverein EBENE B1 dort die Gänge und Vitrinen und verfolgt damit das ambitionierte Ziel, Passanten in dieser trotz Sanierung eher unwirtlichen Umgebung zu einer Begegnung mit der Kunst anzuregen. Seit dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 läuft die durch Crowdfunding und Vereinsmittel finanzierte Ausstellungsreihe „Die Kunst braucht Dich“, die zunächst zehn Künstlerinnen und Künstlern aus der Rhein-Main-Region jeweils eine Einzelschau ermöglicht und damit Überbrückungshilfe für eine von der Pandemie besonders hart getroffene Zunft leistet. In der EBENE B1 präsentiert Ulrike von der Osten freilich nicht allein ihr jüngstes Projekt. Stattdessen lernt man dort die „ganze“ Künstlerin kennen, das heißt vor allem auch die Malerin. Dass ihre Bilder ebenfalls um das Thema Freiheit kreisen, verbindet sie mit den 100 Köpfen des 8. Mai.
Ihre während der letzten Jahre entstandenen Motive zeigen abstrakte Strukturen in starken, aber meist gebrochenen Farben. Man sieht Kreuzungen, Knotenpunkte, Kurven und Flächen, die mit wechselnd freiem wie geplantem Pinselstrich auf die Leinwand gebracht wurden. Der Eindruck, dass es sich dabei um stilisierte Straßen, Schienen und Trassen handelt, wie sie auf Lage-, Straßen- oder Metro-Plänen zu sehen sind, ist nicht nur der suggestiven Kraft des Ausstellungsortes geschuldet, bei dem es sich schließlich um einen der meistfrequentierten S-Bahnhöfe der Stadt handelt.
Im Titel der Ausstellung „maps and other situations“, die 2020 in der Frankfurter Galerie Heussenstamm/Raum für Kunst und Stadt lief, wurde ein entsprechender Bezug schon einmal offenbar: In ihren Bildern kartographiert Ulrike von der Osten das Unterbewusste.

Die Leinwände zeigen ein Allover aus Flächen und Linien, die einander überlagern, überkreuzen und durchdringen, aber selten völlig überdecken. Etwas vom Darunter scheint immer durch. Auf diese Weise wird nicht nur der Malprozess sichtbar. Vielmehr kann man dies zugleich als Metapher für Geschichte und die damit verbundenen Fragen auffassen, die die Künstlerin auch in anderen Teilen ihres Werks zum Thema macht. So bewegt sich ihre Malerei an gleich mehreren Scheitelpunkten, indem sie das Spannungsverhältnis zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit, Transparenz und Opazität, Opulenz und Reduktion, vorne und hinten, vorher und nachher auslotet. Sowohl auf der großen Leinwand wie auf kleinem Papierformat scheinen sich die Kompositionen in den Raum über die Bildkante hinaus erstrecken zu wollen.
Auf diese Weise entsteht der Eindruck eines Ausschnitts, der ein weiteres Mal auf die reale Welt verweist. So glaubt man auf der Leinwand wiederzuerkennen, was man auch in Ulrike Ostens jüngstem Film sehen kann: eine am Fenster eines fahrenden Zuges vorbeiziehende (Stadt-)Landschaft.

Frankfurt am Main, 2022

Erzählen, wie das Leben ist

Zur Bildauffassung von Ulrike von der Osten // Angelica Horn

Ulrike v. der Osten erzählt in ihren Bildern, ohne Geschichten zu erzählen. In ihren Bildern ist eine Erzählung möglich geworden, die weder narrativ Ereignisse verknüpft, wie dies zeitgenössisch in Gemälden von Neo Rauch unternommen wird, und früher z.B. die Maler der deutschen Romantik erstrebten, noch die zentrale Situation einer Geschichte hervorhebt, wie dies Lessing am Bildwerk des Laokoon demonstrierte und dies in der Historienmalerei, z.B. von Jaques-Louis David, angestrebt wurde, oder heutzutage Thomas Demand macht, auch wenn dieser gerade nicht erzählt, sondern in der Rekonstruktion des Tatorts an die verbreiteten Bilder des Geschehens erinnert. Die Geschichte im Sinne einer Abfolge, eines zeitlichen und vielleicht im Bilde zu bannendes Geschehen ist nicht Ulrike v. der Ostens Anliegen oder Ziel. Ihre Bilder erzählen. Aber sie erzählen keine Geschichte, kein Geschehen: Sie erzählen eine Situation.

Eine Situation zu erzählen, bedeutet nicht, sie zu beschreiben, denn das Beschreiben wäre bereits eine Geschichte. Erzählen bedeutet, kund zu tun, wie etwas ist und wie es aussieht. Es geht nicht um einen Ausschnitt, nicht um den alles versammelnden Augenblick, nicht um die Prägnanz im Kontext der Historie, nicht um den Verlauf von einst bist jetzt und morgen. Es geht um die Situation, die in sich zeitlos ist und zugleich in sich Zeit hat. Geschichte bleibt außerhalb des Bildes, die Situation ist in ihr.

Ulrike v. der Osten steht in ihrer Bildauffassung in der Tra dition eines Paul Cezanné, der wohl als erster jede Geschichte aus dem Bild ließ, ohne abstrakt auf das Bild als Bild zu reflektieren. Das Entscheidende ist die Erkenntnis, daß ein Bild als Erzählung einer Situation darin Bestand hat, daß jede malerische Setzung den gleichen Rang, dieselbe Wertung, dieselbe Bedeutung hat. Umgekehrt gesagt, das Bild als Situation der Malerei besteht in der Demonstration einer gesehenen, einer sichtbaren Erzählung.

Ein Angler steht im Bild. Die Fußstellung deutet darauf hin, daß er sich im Gehen befindet. Als zentrale Figur ist er dadurch markiert, daß die Farben der anderen Bildflächen sich in seiner Kleidung wiederfinden, die Farbe des Bodens, wie die blaue Fläche, die wir als Meer zu identifizieren geneigt sind. Die Angelrute stellt die Beziehung zu dieser Fläche her. Aufgrund der Fußstellung wissen wir, daß er nicht am Angeln ist. Es geht nicht um das Geschehen des Angelns, sondern um die Situation des Anglers in eben diesem Kontext.

In anderen Situationen ist die Figur des Anglers in ihrer Farbigkeit freigestellt vom Kontext. Ulrike v. der Osten scheut sich nicht, das Atmophärische der Farbigkeit in Anspruch zu nehmen. Die Atmosphäre ist spürbare Verdichtung der Situation. Besonders deutlich wurde mir das vor dem Bild „Kindheit”, in dem die zentrale Figurengruppe wie entrückt scheint – in der Malweise wie durch das sie umgebende Grün, eben wie ein Bild aus der Vergangenheit, ohne daß sich das Grün der Situation bemächtigen kann, nicht zuletzt durch die aufgesprengten Farbpunkte, wie sie sich auch in anderen Bildern finden. Das Atmosphärische nimmt teil – gerade weil es sich nicht um Geschichte, um keinen Roman handelt.

Ulrike v. der Osten bedient sich oft eines oder mehrerer Fotos, um eine Situation, zusätzlich zu ihrer Erinnerung, festzuhalten. Im Falle der Wanderer im Walde waren es mehrere Fotos, was dazu fährt, daß jede Figur für sich steht und geht. So fügen sie sich in den Kontext der Bäume ein. Kontext und Figur reflektieren sich wechselseitig – es geht um die Autonomie des Bildes und um Freiheit. Das schließt die Teilhabe der Malerin an ihren Bildern ein.

Ulrike v. der Osten realisiert ihre Bildauffassung, in dem sie mit möglichst luzidem Farbauftrag, die jedes malerische Ereignis in seiner Freiheit aufscheinen läßt, die Figuren ihrer Bilder deutlich macht: Sei es eine Person, eine Gruppe von Bäumen, oder eine einzelne Figur im Schnee. Die Sprache verrät sich, weil sie versucht zu identifizieren, Figuren festzuhalten. Und die Wahrnehmung tendiert auch dazu. Den Angler können wir nicht begreifen, die Situation nicht verstehen, wenn wir nicht die Farbe der anderen Bildflächen sehen.

Menschen im Wald, unterwegs, so erzählt die Sprache. Das Bild zeigt, wie jeder für sich ist. So wie jeder Baum, jeder Strich, jeder Fleck [tache]. So erzählen die Bilder von Ulrike v. der Osten, wie das Leben ist. Jeder und jedes ist für sich. Und zugleich gibt es die glücklichen und glücklichsten, wie die einsamsten oder traurigsten Situationen, wo Kontext und Verbindung vom Menschlichen reden. Für mich am großartigsten ist dies gelungen im Bild einer Frau mit Vogel auf einem Balkon. Das Lapidare des Lebens – das vermeintlich Lapidare – die Situation, die Präzision des Bildes auf den Punkt zu bringen - genau das erzählt davon, wie das Leben ist.

Frankfurt am Main, 2009